Viktor Raabe (1864-1942), Meiningser Pfarrer und Soester Superintendent [1]

Die zum Gemeindehaus umgebaute ehemalige Schule zu Meiningsen ist nach Abschluß der Baumaßnahmen nach dem ehemaligen Pfarrer und Soester Superintendenten Viktor Raabe benannt worden. Zu dieser Namensgebung sah sich das zuständige Presbyterium durch die folgenden beiden Gründe veranlasst: zum einen hat die kleine Bördegemeinde Meiningsen in den acht Jahrhunderten ihrer Geschichte keinen anderen Superintendenten hervorgebracht, zum anderen sind der Charakter und die Amtsführung dieses Mannes selbst in schwieriger Zeit integer geblieben. Insbesondere hat er, wie im folgenden zu zeigen, mit wacher Urteilskraft sehr früh vor den Entwicklungen des Dritten Reiches gewarnt und auch Konsequenzen gezogen: nach dem Wahlsieg der Glaubensbewegung "Deutsche Christen" 1933 legte Raabe aus Protest seinen Talar ab und trat mit sofortiger Wirkung von allen kirchlichen Ämtern zurück.

Viktor Raabe
Viktor Raabe (Für die Überlassung des Fotos danken wir Frau Paula Deike, Göttingen)

Bei der Beschäftigung mit Raabe fällt der Mangel an Quellenmaterial auf, zumal seit dessen Ableben erst fünfundfünfzig Jahre vergangen sind. Weder in den Archiven der Kirchengemeinde Meiningsen, des Kirchenkreises Soest und der Westfälischen Landeskirche, noch in denen der Stadt sowie des Kreises Soest gibt es bis auf die unten genannten keinerlei Dokumente; selbst die Personalakte Raabes ist verschollen. Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, daß Raabe Junggeselle war und es somit keine direkten Nachkommen gab, die aus Gründen der Pietät an der Archivierung seiner privaten Korrespondenz und Erinnerungsstücke interessiert waren, fällt es schwer zu glauben, dass ein Mann wie Raabe zweiundvierzig Jahre das Amt eines Pfarrer bekleiden konnte, davon sieben als Superintendent, ohne deutliche Spuren zu hinterlassen.

Im folgenden werden die vorhandenen Fakten zusammengetragen und gebündelt.

Viktor, oder mit vollem Namen: Karl Heinrich Franz Viktor Raabe, war ein Soester Kind. Er kam am 6.9.1864 als Sohn des Uhrmachers Viktor Raabe und dessen Ehefrau Sophia, geborene Brinkmann, zur Welt und wurde zu St. Petri getauft. Sein Elternhaus war das noch heute am Markt zu Soest bestehende Juwelier- und Optikstudio gleichen Namens.

Daß sein Vater römisch-katholischen Glaubens war, hinderte ihn später nicht, in seinen Synodalberichten gegen die Machenschaften Roms, die dreisten Übergriffe des römischen Klerus, das 1929 mit Preußen abgeschlossene Konkordat und immer wieder gegen die erschreckend hohe Zahl der Mischehen zu polemisieren. Raabe stand mit solchen Äußerungen nicht allein: Die Konfessionen waren vor dem Zweiten Vatikanum nur sehr eingeschränkt dialogfähig. Um so überraschender und erfreulicher ist die positive Würdigung der Stockholmer Weltkirchenkonferenz durch Raabe: Sie stellt seinem Willen zu einer echten Ökumene unter gleichberechtigten Kirchentümern das beste Zeugnis aus. [2]

Seine Schulausbildung absolvierte Raabe am Soester Archigymnasium und bestand dort sein Abitur zum Ostertermin 1885. Er blieb dieser Schule auch später in besonderer Weise verbunden; als Superintendent sorgte er sich zum einen um deren traditionell evangelischen Charakter - schließlich war sie unter direkter Beteiligung Melanchthons gegründet worden - zum anderen um ihr humanistisches Erbe in Zeiten heraufdämmernder Barbarei. Als im Jahre 1928 (etwa aus antisemitischen Gründen?) die staatlichen Mittel für den Hebräisch-Unterricht gestrichen wurden, stellte Raabe den folgenden Antrag an die Kreissynode: "Leider wird an den Gymnasien der hebräische Unterricht nicht mehr als ordentliches Lehrfach angesehen, und es werden für die Erteilung dieses Unterrichts keine Mittel staatlicherseits mehr zur Verfügung gestellt. Um an dem alten stiftungsgemäßen evang. Gymnasium, für dessen evang. Charakter wir zu kämpfen haben, diesen Unterricht weiter möglich zu machen und damit auch für Nachwuchs an evang. Theologen und Philologen zu sorgen, hat der Syn.-Vorstand den unter 3 [7] der Tagesordnung verzeichneten Antrag eingebracht, wonach die für die evang. Schüler durch die Teilnahme am hebräischen Unterricht entstehenden Kosten auf die Syn.-Kasse zu übernehmen sind." [3] Der Antrag wurde übrigens einstimmig angenommen.

Es ist nicht nur das altsprachliche Rüstzeug, welches Raabe vom Archigymnasium mit auf den Weg gegeben worden ist und ihn sein Theologiestudium nach nur sechs Semestern beenden ließ. Raabe wusste, dass evangelisches Christentum ohne Humanismus nicht zu haben sei, jedenfalls nicht ohne erheblichen Niveauverlust. Und so wundert es auch nicht, dass er nach seinem Studienbeginn an der vom konfessionalistischen Luthertum geprägten theologischen Fakultät in Erlangen die etwas freisinnigere Luft der Universitäten Berlin und Bonn atmen wollte. Die Erinnerung an seine Studienjahre, die Freude an rheinischer Landschaft und Lebensart mögen ihn bewogen haben, seinen Ruhestand in Bad Godesberg zu verbringen.

Der Blick über den Tellerrand des reinen Kirchenfunktionärs, insbesondere die Wertschätzung umfassender Bildung, Forschungsdrang, Kunstverstand und Ringen um geistigen Horizont waren für Viktor Raabe als einem Mann alter Schule noch selbstverständlich. Er tat sich nicht nur als Pfarrer und Theologe, sondern auch als Heimatforscher hervor und veröffentlichte einen längeren Aufsatz über "Das Dominikanerinnen-Kloster Paradiese". [4]

Eine weitere Publikation befaßt sich mit den Opfern des napoleonischen Rußlandfeldzugs im Winter 1812/13. [5] Diese waren über dem glorreichen Abschluß der Freiheitskriege und mancher späteren Sedan-Feier vergessen worden. Ihrer ausgerechnet im zweiten Jahr des ersten Weltkriegs zu gedenken, mutet an wie ein stiller Abschied von Hurra-Patriotismus und nationaler Trunkenheit, denen sich damals viele Zeitgenossen, u.a. Raabes Nachfolger im Amt des Superintendenten, der Borgelner Pfarrer Adolf Clarenbach, ergeben hatten. Trotz mancher Gegensätze in Wesens- und Denkungsart verstanden sich Raabe und Clarenbach ausgezeichnet; letzterer stellt seinem Vorgänger und Amtsbruder das vielleicht schönste Zeugnis aus.

Nicht nur Clarenbach wußte die kultur- und heimatgeschichtlichen Kenntnisse seines Amtsbruders zu schätzen. Folgt man dem Namensregister der "Soester Zeitschrift", so finden sich in vielen Aufsätzen immer wieder Verweise auf Raabe als Informant und Gewährsmann. Auch die Tatsache, dass die besagte Zeitschrift der Jahrgänge 22/23 Raabe als Vorstandsmitglied des Soester Geschichtsvereins aufführt, spricht für sich.

Dieser Mann, von dessen Charakter und Geisteshaltung wir nunmehr schon ein einigermaßen festumrissenes Bild haben, stellte sich, nachdem er vor dem Münsteraner Konsistorium zum Ostertermin 1890 sein Zweites Theologisches Examen bestanden hatte, als Kandidat für die freigewordene Meiningser Pfarrstelle zur Wahl - neben elf weiteren Bewerbern: Der Überschuss an Pfarramtskandidaten ist also nicht nur ein Problem der Westfälischen Landeskirche unserer Tage.

Über die ersten Amtsjahre Raabes in Meiningsen ist bis auf die dürren und für sein geistiges Profil unergiebigen Ergebnisprotokolle der Presbytersitzungen nichts überliefert. Wie im Falle der heimatkundlichen Kenntnisse darf man dem oben zitierten Urteil Clarenbachs auch über die ausgezeichneten Fähigkeiten seines zehn Jahre älteren Amtskollegen in Seelsorge, Verkündigung und Verwaltungstätigkeit durchaus Glauben schenken, zumal es noch von anderer Seite bestätigt wird. Der von 1945 bis 1954 in Meiningsen wirkende Pfarrer Wolfgang Rausch schrieb in seinem noch unveröffentlichten Entwurf einer Kirchengeschichte dieser Gemeinde: "Er hat ein strenges Regiment geführt und erhielt die traditionell gute Kirchlichkeit der Gemeinde." Doch ist er auch noch manchem älteren Gemeindeglied als gütiger und väterlicher Mann in Erinnerung.

Dennoch war das Pfarramt auf dem Dorfe keineswegs nur idyllisch. Das zeigt sich in den präzisen, knapp gefassten Synodalberichten, die Raabe nach seiner am 16.9.1926 erfolgten Wahl zum Superintendenten zu verfassen gehalten war. Es sind bis auf die oben erwähnten Aufsätze und wenige erhaltene Briefe die einzigen schriftlichen Zeugnisse aus der Feder Raabes. Mit großartiger Urteilskraft bringt er darin politische, soziale und theologische Fragen auf den Punkt, liebt es aber, seine eigene Meinung hinter Zitaten aus den einzelnen Presbyterien oder namhaften Theologen (z. B. O. Dibelius) zu verstecken. Lediglich dort, wo er durch die Zeitumstände den Bekenntnisstand herausgefordert sah, bezieht er - dann allerdings mit großem Nachdruck - eindeutig Position.

Die Wahl Raabes zum Superintendent [6] der Synode Soest ist keine Überraschung gewesen, war er doch vorher bereits Synodalassessor unter seinem Vorgänger Kuhr aus Weslarn, welcher nach 46 Dienstjahren 1925 emeritiert wurde. Auch der Nachfolger Raabes als Superintendent, Adolf Clarenbach aus Borgeln, war Bördepfarrer. Dies ist ebenfalls kein Zufall. Erst nach der Bildung des Kirchenkreises Arnsberg verloren die kleinen Land- bzw. Diasporagemeinden die Mehrheit in der Synode Soest.

Es gab erste, wenngleich auch bescheidene Wellen von Kirchenaustritten. Während die entsprechenden Zahlen heutzutage verschämt übergangen oder mit dem Hinweis auf den finanziellen Aspekt (Einsparung von Kirchensteuern) die tieferen Gründe der geistlichen Misere verschleiert bzw. schöngeredet werden, legt Raabe die exakten Zahlen auf den Tisch und den Finger auf den wunden Punkt: "In Anbetracht der Propaganda der Kommunisten und sonstiger Kreise, die für den Austritt oder Übertritt werben, sind diese Zahlen nicht hoch. Sie sollten uns jedoch nicht in Sicherheit wiegen, sondern, wenn sie auch noch so gering sind, uns zur neuen Treue und Wachsamkeit mahnen." [7] Gleichzeitig setzt er sich durch eine entsprechende Synodalbeauftragung an Pfarrer Jansen aus Schwefe, durch entsprechende Referate auf der Pfarrkonferenz, auf der Versammlung der Presbyter und Gemeindeverordneten sowie der gesamten Männer- und Frauenvereine nachdrücklich für die Bekämpfung der Gottlosenbewegung ein. [8]

Die Ursachen solcher Entwicklungen sah er nicht nur in der sozialen Schieflage und Massenarbeitslosigkeit, die es durch Werke der christlichen Nächstenliebe zu begegnen gelte, sondern auch in dem allgemeinen religiösen und sittlichen Tiefstand: "Die allgemeine geistige Versimpelung durch möglichst geistlose Vergnügungen nimmt wohl eher noch zu als ab." [9] Genau dieses auch uns nicht unbekannte Phänomen, geistige Abstumpfung und moralische Verrohung, gepaart mit christlichem Traditionsverlust, sollte zum Nährboden des Nationalsozialismus werden.

Im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen hatte Raabe die Zeichen der Zeit recht früh erkannt. Bereits 1925 setzte er das Konsistorium von dem neuheidnischen Brauch des Johannisfeuer [10] zu Meiningsen in Kenntnis, das sich 1928 zur veritablen Sonnwendfeier auswuchs und zu dem dann 1932 die Soester Jugend vom Jakobitor hinauf nach Meiningsen pilgerte. Die hektographierten Programme sind noch im Landeskirchlichen Archiv zu Bielefeld erhalten, die dazugehörigen Begleitschreiben sonderbarerweise nicht.

Viktor Raabe 19281928

Wie dem auch sei: Auch wenn seine Briefe verschwunden sind, so sprechen die Synodenberichte Raabes eine deutliche Sprache. Volle vier Jahre vor der Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen (Mai 1934) faßt Raabe Kirche und Christentum als Hort des inneren Widerstands gegen die Radikalisierung seiner Zeit auf. Es ist, wie er als Lutheraner weiß, einzig die geglaubte, nicht die verfaßte Kirche, welche sich der Vereinnahmung von außen erwehren kann; Status confessionis, Scheidung der Geister und Kirchenkampf sind für seinen hellsichtigen Blick die notwendigen Konsequenzen.

Dass er keineswegs, wie es hier vielleicht noch den Anschein haben mag, auf dem rechten Auge blind ist, zeigt der folgende Passus aus dem Synodenbericht von 1932. Ein Jahr, nachdem der ehrgeizige Pfarrer Bruno Adler aus Weslarn in der Pfarrkonferenz über das Thema "Nationalsozialismus und Christentum" referierte (man beachte die vielsagende Reihenfolge der Begriffe), wendet sich Raabe nüchternen Geistes und ideologisch völlig immun ein letztes Mal an die Synodalen: Die analytische Schärfe, der theologische Gehalt und die konsequente, unbestechliche Geradlinigkeit dieser Ausführungen Raabes hätten es sicherlich verdient, als eine Perle auf die Schnur von "Vergessene Bekenntnisse des Jahres 1933" eingereiht zu werden. [11] Und mehr noch: Selbst die Sprache Raabes unterscheidet sich wohltuend von der "lingua tertii imperii", sie ist ganz und gar nicht infiziert von der Begrifflichkeit des Dritten Reiches, die selbst namhafte Vertreter der Bekennenden Kirche fromm und fleißig adaptiert hatten; vergleiche hierzu beispielsweise den folgenden Titel aus der Feder von Karl Heim: "Jesus der Herr: Die Führervollmacht Jesu und die Gottesoffenbarung in Christus", Berlin 1935.

Dass Raabe mit seinen Vorstellungen weder in der Synode noch im eigenen Presbyterium Gehör fand, ist nicht seine Schuld. Gerade das, was ihn in Augen der Nachwelt auszeichnet, nämlich seine strikte Bindung an Schrift und lutherischen Bekenntnissen in einer Zeit der geistigen Verirrung und ideologischen Trunkenheit, seine überlegene Weitsicht unter vielfach von nationalem Wunschdenken getrübten Augen, seine Zivilcourage und Charakterfestigkeit ließen Raabe durch sein Amt zur unbequemen Person werden, an dem sich die überzeugten Nationalsozialisten vor Ort emporhaßten.

Meines Wissens besitzt Meiningsen den einzigen Friedhof in der Börde, dessen Grabkreuze von der SA geschändet bzw. zerstört wurden; [12] ein Gemeindeglied berichtete, dass gleich nach dem Wahlsieg der NSDAP vom 30. Januar 1933 eine Denunziantin des Dorfes die Predigten des nicht gleichzuschaltenden Raabe eifrig mitstenographierte.

"Aus Ärger über die 'deutschen Christen', die die Einheit seiner Gemeinde zerstörten," schrieb Wolfgang Rausch in seinem Entwurf der Kirchengeschichte Meiningsens, sei Raabe 1933 in den Ruhestand gegangen. Leider ist auch der Brief Raabes mit seinem Rücktrittsgesuch an das Konsistorium nicht erhalten. Ohne Rückhalt in Presbyterium und Synode, die sich am 16. August vor Beginn der eigentlichen Tagesordnung bemüßigt sah, ein peinliches Bekenntnis zum Führer und Reichskanzler Adolf Hitler abzulegen, dürfte ihm wohl auch keine andere Alternative erwägenswert gewesen sein.

Man vergleiche die oben zitierten Ausführungen Raabes vom Synodenbericht 1932 mit dem anbiedernd-unterwürfigen Wortlaut dieser vom damaligen Synodalassessor v. Renesse (reformierte Gemeinde Soest) eingebrachten Erklärung: "Die Kreissynode bekennt sich mit dankbarer Freude zu der gottgeschenkten Bewegung, welche unser deutsches Volk unter der kraftvollen Führung unseres Reichskanzlers Adolf Hitler ergriffen und es vor dem drohenden Bruderkriege und Bolschewismus bewahrt hat. Sie ist freudig bereit, mit den Kräften des unverkürzten Evangeliums durch Wort und Tat an der Erneuerung unseres Volkslebens und der Herstellung einer gefestigten und geheiligten Volksgemeinschaft, die frei ist von Parteihader, Klassenkampf und Standesdünkel, mitzuarbeiten, und ruft unterschiedslos alle Kirchenglieder auf, der heiligen Verantwortung ihres Berufes, den uns unser Meister Jesus Christus anweist: 'Ihr seid das Salz der Erde' sich bewußt zu bleiben und hiernach treu zu handeln zum besten unseres deutschen Volkes und Vaterlandes." [13] Dass Raabe den Kampf gegen eine solche auch noch einstimmig beschlossene Dummheit als aussichtslos erachtete und sich als älterer Herr von fast siebzig Jahren vor den untragbar werdenden Verhältnissen in ein äußerst beredtes Schweigen zurückzog, statt zum Märtyrer wider Willen zu werden, schmälert seine Größe nicht und stellt seiner Urteilskraft ein weiteres Mal das allerbeste Zeugnis aus. Dass er trotz dieser Erfahrungen die Beziehungen zur Soester Synode auch nach seinem Rücktritt in den Ruhestand nicht abreißen lassen wollte, zeigt der in einem Brief vom l. Oktober 1934 ausgesprochene Dank an den Kreissynodalvorstand für die Grüße und Wünsche zum 70. Geburtstag. [14]

Als Pfarrer alten Schlages verabschiedete sich Raabe natürlich nicht in den Ruhestand, ohne für seine Nachfolge im Amt zu sorgen. Er kannte das bis auf den heutigen Tag praktizierte Verfahren der kirchlichen Aufsichtsbehören, aus finanziellen oder disziplinarischen Gründen einen Pfarrstellenwechsel zum Anlass für eine Aufhebung der Pfarrstelle bzw. deren Zusammenlegung mit einer Nachbargemeinde zu benutzen. Vorsorglich schreibt er am 25. Juli 1933 an das Konsistorium zu Münster.

Derartige Strukturüberlegungen sind den kreiskirchlichen Ausschüssen auch heutzutage nicht unbekannt. Damals fanden die Vorschläge Raabes kein Gehör; die Pfarrstelle zu Meiningsen blieb bis 1945 vakant und wurde zunächst von Ostönnen mit versorgt. Dass der damalige Pfarrer Clemen die Meiningsen zustehenden Einkünfte aus dem Klingelbeutel für seine eigene Gemeinde abzog, übertraf die schlimmsten Befürchtungen Raabes und ist den Meiningsern noch heute in denkbar schlechter Erinnerung.

Viktor Raabe starb am 12.8.1942 in Bad Godesberg. Auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin wurde er in aller Stille beigesetzt. Der einzige Amtsbruder und Vertreter der Meiningser Kirchengemeinde an seinem Grabe war übrigens der Schwefer Pfarrer Wilhelm Jansen. Er schrieb ins Kirchenbuch: "Und doch hätte dieser treue Seelsorger und Amtsbruder soviel Dank verdient." So zitiert ihn Wolfgang Rausch in seiner noch nicht veröffentlichten Geschichte der Meiningser Gemeinde [15]. Das ehrende Andenken und die verdiente Anerkennung, die ihm eine verblendete oder verständnislose Zeit vorenthielt, möge ihm wenigstens posthum durch die Benennung des Gemeindehauses Meiningsen nach seinem Namen zuteil werden.

Bei allen inneren und äußeren Auflösungserscheinungen, von denen die evangelische Kirche Westfalens auch in unserer Zeit nicht verschont bleibt, mag dieser aufrechte Mann, der unter äußerst schwierigeren Bedingungen still und beharrlich seinen Dienst versah, als geistliches Vorbild dienen: "So wollen wir doch nie vergessen, daß letzten Endes nicht von Verfassungen und Paragraphen, von Kirchenordnungen und Gesetzen, so notwendig und wertvoll sie auch sind, der Bau des Reiches Gottes und seiner Kirche hier auf Erden, auch nicht das Gedeihen unserer ev. Kirche abhängt, sondern davon, daß sie gegründet ist und gegründet bleibt auf dem Grunde, der unbeweglich steht, wenn Himmel und Erde untergeht, und daß christliche, evangelische Persönlichkeiten in ihr leben und wirken, die erfüllt sind von dem Geist unseres Gottes." [16]

Quellen und Hinweise

  1. Frank Stückemann, Festvortrag zur Einweihung des Gemeindehauses zu Meiningsen am 26.10.1997. wie hier - leicht gekürzt und überarbeitet - erschien er in den Mitteilungen  des Vereins für Geschichte und Heimatpflege Soest e. V. Siehe Literaturverzeichnis.
  2. Verhandlungen der Kreissynode Soest am 17. Mai 1926. S. 6.
  3. Verhandlungen der Kreissynode Soest in Soest, am 22. Oktober 1928. S. 23f.
  4. Vgl. Heimatkalender des Kreises Soest, (1922), S. 75-78. und (1923), S. 45-53.
  5. Viktor Raabe, "Aus der Zeit der schweren Not", in: Heimatkalender 1915 für die Kreissynode Soest. S. 36-38.
  6. Anmerkung der Redaktion: Siehe dazu der Bericht "Ein Ehrentag der ev. Gemeinde Meiningsen 1926".
  7. Verhandlungen der Kreissynode Soest in Soest, am 10. Oktober 1932. S. 10.
  8. Brief Nr. 341 an das Konsistorium vom 3. März 1932. Landeskirchliches Archiv Bielefeld.
  9. Verhandlungen der Kreissynode Soest in Lippstadt, am 30. Mai 1927. S. 25.
  10. Anmerkung der Redaktion: Siehe dazu auch Eduard Vogeler, Das Johannisgelage zu Schwefe und Meiningsen. Siehe Literaturverzeichnis.
  11. Vgl. Heinz Potthast (Hg.): Vergessene Bekenntnisse des Jahres 1933, in: Materialien für den Dienst in der Evangelischen Kirche von Westfalen, A 21, Bielefeld 1983.
  12. Diese Information verdanke ich (Frank Stückemann) dem 1996 verstorbenen langjährigen Kirchmeister Heinrich Blumendeller.
  13. Verhandlungen der Kreissynode Soest in Soest, am 16. August 1933. S. 5.
  14. Landeskirchliches Archiv Bielefeld.
  15. Anmerkung der Redaktion: Wolfgang Rausch, Entwurf einer Kirchengeschichte der Gemeinde Meiningsen. Nicht veröffentlicht. Wolfgang Rausch wirkte als Pfarrer in Meiningsen von 1945 bis 1954.
  16. Verhandlungen der Kreissynode Soest am 17. Mai 1926. S. 5.

Siehe auch